Wenn Leiden keinen Orden mehr verdient, Pflege im Aufbruch

„Es tut mir leid.“ Drei kleine Worte, die wir oft beiläufig aussprechen und doch steckt in ihnen die ganze Geschichte einer Branche. Sie stehen für das Leiden, das Generationen von Pflegekräften geprägt hat. Sie markieren das Ende, wenn keine Kraft mehr da ist. Und sie eröffnen den Raum für einen Neubeginn, wenn wir endlich aufhören, Härte mit Stärke zu verwechseln.

Zu lange war die Pflege stolz auf das Falsche. Doppelschichten wurden wie Orden getragen, “Krank-Arbeiten” galt als Loyalität, und das Mantra „Ich musste da auch durch“ wurde weitergegeben wie ein Ehrenabzeichen. Viele haben ihre eigenen Grenzen als Beweis für Berufung interpretiert, anstatt sie zu schützen. Diese Haltung hat ihren Preis wie Überlastung, innere Kündigung und hohe Fluktuation. Wir haben emotionale Wunden in Auszeichnungen verwandelt, dabei war es fehlende Selbstfürsorge. Es ist ein gefährliches Erbe, das bis heute wirkt und die nächste Generation zunehmend irritiert zurücklässt.

Die Fakten sind eindeutig. Der DAK-Gesundheitsreport 2025 zeigt, dass 28 Prozent der Generation Z Konflikte mit älteren Kolleg:innen als starke Belastung empfinden. Laut der Deloitte Global Survey 2025 berichten mehr als die Hälfte dieser jungen Fachkräfte von Erschöpfungssymptomen. Das sind keine Einzelfälle, sondern strukturelle Folgen einer Kultur, die Leiden als Ausweis von Stärke verklärt hat. Wer heute in die Pflege einsteigt, trifft damit nicht nur auf hohe Arbeitsanforderungen, sondern auf eine Haltung, die Selbstfürsorge oft noch als Schwäche deutet.

Das zeigt sich in Alltagssituationen. Wenn eine Auszubildende aus der Generation Z sagt: „Ich nehme meine Pause“, empfinden manche Boomer oder Vertreter:innen der Gen X das als Respektlosigkeit. Doch ist es nicht vielmehr ein Spiegel? Wer selbst nie eine Pause nehmen durfte, spürt Schmerz, wenn andere sie selbstverständlich einfordern. Wer sein „Nein“ jahrelang verschluckt hat, reagiert wütend, wenn Jüngere es klar aussprechen.

Generationenkonflikte sind deshalb weniger ein Kampf der Werte, sondern ein Aufeinandertreffen unverarbeiteter Erfahrungen.

Die Jüngeren fordern das ein, was den Älteren gefehlt hat. Und die Älteren fühlen sich dadurch in ihren eigenen Verletzungen berührt.

Hier entscheidet sich, ob wir als Branche weiter im Muster verharren oder ob wir den Mut haben, den Impuls der nächsten Generation aufzunehmen. Ohne Boomer und Gen X gäbe es keine heutige Pflege. Sie haben Fundamente gelegt, Strukturen aufgebaut und Verantwortung getragen. Millennials haben diese Strukturen weiterentwickelt und begonnen, Fragen nach Balance und Vereinbarkeit zu stellen. Generation Z fordert nun Selbstfürsorge ein, und Generation Alpha wird ein Selbstverständnis von Sinn und Nachhaltigkeit mitbringen. Jede Generation bringt wertvolle Beiträge ein. Erfahrung und strategischen Weitblick, Brückenbau und Innovationskraft oder Mut zur Abgrenzung und Sinnorientierung.

Die Frage ist also nicht, ob die Jungen gegen die Alten stehen, sondern ob wir diese Vielfalt endlich als Ressource begreifen.

Für Einrichtungen bedeutet das, die eigene Kultur konsequent zu hinterfragen. Es reicht nicht, nach außen von Wertschätzung zu sprechen, wenn im Alltag Kritik das vorherrschende Führungsinstrument ist. Entscheidend ist, ob Einrichtungen bereit sind, Strukturen zu schaffen, die Gesundheit nicht dem individuellen Durchhaltevermögen überlassen, sondern sie institutionell absichern.

Das beginnt bei der Pausenkultur. Pausen sind Arbeitszeit und kein Luxus. Wenn Führungskräfte das klar benennen und aktiv darauf achten, dass sie auch genommen werden, verändert das nicht nur die Erholung, sondern auch die Haltung im Team. Es setzt Signale. Wir wollen, dass ihr gesund bleibt. Ebenso wichtig ist es, Generationen ins Gespräch zu bringen. Dialogformate, in denen Erfahrungen, Erwartungen und Grenzen ausgetauscht werden, schaffen Verständnis und reduzieren Spannungen. Hier zeigt sich oft, dass die vermeintlichen Unterschiede kleiner sind, als gedacht und dass hinter Konflikten häufig verletzte Bedürfnisse stehen.

Ein weiterer Schlüssel liegt in der Führungskultur. Einrichtungen, die Vertrauen an die Stelle von Kontrolle setzen, die Mitarbeitende beteiligen und flexibel auf Lebensphasen reagieren, berichten bereits heute von sinkender Fluktuation und weniger Krankheitsausfällen. Führung, die Gesundheit als Kernaufgabe versteht, wird zur Zukunftsfähigkeit der Organisation beitragen. Es geht nicht darum, dass alle immer zufrieden sind.

Es geht darum, ob Mitarbeitende das Gefühl haben, dass ihre Grenzen ernst genommen werden und sie ihre Arbeit langfristig leisten können, ohne daran zu zerbrechen.

Natürlich tut es weh, sich einzugestehen, dass vieles, worauf wir stolz waren, auf Kosten unserer Gesundheit ging. Aber genau hier liegt die Chance. Schmerz ist kein Endpunkt, er ist der Beweis dafür, dass Veränderung möglich ist. Wenn wir anerkennen, dass wir uns selbst oft nicht ernst genommen haben, können wir Strukturen entwickeln, die den kommenden Generationen nicht nur Durchhaltevermögen abverlangen, sondern echte Gestaltungskraft eröffnen.

Stellen wir uns eine Pflege vor, die diesen Schmerz nicht verdrängt, sondern als Ressource nutzt. Eine Pflege, die erkennt, dass die Forderung der Generation Z nach Selbstfürsorge kein Luxus, sondern ein Rettungsanker ist. Eine Pflege, die stolz ist auf Sinn, Selbstbewusstsein, Stärke und damit so attraktiv wird, dass andere Branchen von ihr lernen wollen.

„Es tut mir leid“ ist deshalb kein Schlussstrich. Es ist der Anfang. Es ist die Einladung, Verletzlichkeit nicht länger als Schwäche zu tarnen, sondern als Kraft zu begreifen. Es ist die Möglichkeit, die eigene Geschichte nicht mehr als Last zu tragen, sondern als Grundlage für eine neue Kultur. Und es ist die Chance, endlich nicht mehr stolz auf unsere Wunden zu sein, sondern auf das, was wir daraus bauen.

Sarah Liedtke

Trainerin / Coach / Speakerin

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